Lernen wie eine Wissenschaftlerin: Die Kraft der experimentellen Denkweise

Lernen wie eine Wissenschaftlerin: Die Kraft der experimentellen Denkweise

In unserem heutigen leistungsorientierten Umfeld eröffnet die experimentelle Denkweise einen revolutionären Zugang zu persönlichem Wachstum und Erfolg. Dieser Ansatz, massgeblich von der Neurowissenschaftlerin und Unternehmerin Anne-Laure Le Cunff geprägt, transformiert unsere Beziehung zu Herausforderungen, Fehlern und Lernen grundlegend. Anne-Laure, Gründerin von Ness Labs und Autorin des Buches "Tiny Experiments: How to Live Freely in a Goal-Obsessed World", erforscht als Wissenschaftlerin am King's College London die Neurowissenschaft lebenslangen Lernens, der Neugier und Anpassungsfähigkeit. Ihre Erkenntnisse bieten eine befreiende Alternative zu traditionellen Erfolgskonzepten und ermöglichen ein Leben, das von nachhaltiger Neugier und kontinuierlichem Wachstum geprägt ist, anstatt von starren Zielvorstellungen eingeengt zu werden.

Der Weg zur experimentellen Denkweise

„Ich bin wirklich, wirklich froh, heute hier zu sein." So beginnt Le Cunff ihren Vortrag – und wie sie betont, ist das keine leere Floskel.[1] Früher verursachte der Gedanke an öffentliches Sprechen bei ihr Lampenfieber, Magenschmerzen und schlaflose Nächte. Durch konsequentes Experimentieren, Scheitern und Lernen veränderte sich jedoch ihre Einstellung grundlegend. Diese persönliche Transformation veranschaulicht die zentrale These ihrer Arbeit: Eine experimentelle Herangehensweise kann unseren Umgang mit Herausforderungen und unseren Lernprozess fundamental umgestalten.[2]

Kinder als geborene Experimentierer

Als idealer Ausgangspunkt für das Verständnis experimentellen Denkens dienen Kinder. Sie sind von Natur aus problem- und lösungsorientiert – ihr Gehirn ist auf Mustererkennung, Verbindungsherstellung und Ausprobieren ausgerichtet.[6] Neurologisch betrachtet arbeitet das kindliche Gehirn mit Hochleistung: Der Hippocampus fördert das Erinnern, das dopaminerge Belohnungssystem feuert die Motivation an, und die angeborene Neugier treibt den Forschungsdrang voran.

Kinder experimentieren permanent und unermüdlich: Sie bauen und zerstören Türme aus Klötzen, mischen Farben, drücken Knöpfe, um Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu verstehen. Besonders auffällig ist ihre Freude an Fragen – Studien zeigen, dass Kinder durchschnittlich über 100 Fragen täglich stellen. Doch mit etwa sechs Jahren verlangsamt sich dieser natürliche Fragestrom, und in der Mittelstufe entwickelt sich zunehmend die Angst vor Fehlern. Die intrinsische Motivation verschiebt sich von „Was passiert, wenn ich das ausprobiere?" zu „Was, wenn ich es falsch mache?".[7]

Der lineare Erfolgsgedanke und seine Grenzen

Anne-Laure identifiziert als Ursache für diese Entwicklung unsere gesellschaftlich tief verankerte Definition von Erfolg.[2] In der modernen Leistungsgesellschaft wird Erfolg typischerweise als das Erreichen eines vordefinierten Ziels verstanden. Wir messen Fortschritt mit KPIs, OKRs und regelmässigen Leistungsbeurteilungen. Unsere Bildungssysteme und Unternehmenskulturen betrachten Erfolg als linearen Prozess: Man setzt ein Ziel, entwickelt einen Plan und arbeitet systematisch daran, dieses Ziel zu erreichen.[3]

Diese lineare Betrachtungsweise steht jedoch im Widerspruch zur Realität unserer Welt, die komplex, vernetzt und ständig im Wandel begriffen ist. „Wenn du die lineare Vorstellung loslässt, wenn du die Idee aufgibst, dass Erfolg wie eine Leiter ist, die du Schritt für Schritt mit festen Meilensteinen erklimmen musst, eröffnen sich viele Möglichkeiten", erklärt Le Cunff.[3] Wenn Erfolg ausschliesslich als das Erreichen festgelegter Ziele definiert wird, bleiben nur zwei Möglichkeiten: Erreichen oder Scheitern. In einer unvorhersehbaren, sich schnell verändernden Welt führt diese reduktionistische Sichtweise zwangsläufig zu Frustration und potenziell zu Burnout.[6]

Die wissenschaftliche Definition von Erfolg: Lernen statt Erreichen

Im Gegensatz zum linearen Erfolgsmodell bietet die wissenschaftliche Methode eine grundlegend andere Perspektive. Wissenschaftler definieren Erfolg nicht primär als das Erreichen eines vordefinierten Ergebnisses, sondern als das Gewinnen neuer Erkenntnisse.[5] Ihr Ziel ist das Lernen – unabhängig davon, ob die ursprüngliche Hypothese bestätigt wird oder nicht. Jedes Ergebnis, auch ein unerwartetes, liefert wertvolle Daten und führt zu neuem Wissen.

Diese Denkweise entspricht nicht nur dem wissenschaftlichen Ansatz, sondern ist auch neurologisch fundiert. Unser Gehirn arbeitet natürlicherweise in Zyklen von Wahrnehmung und Aktion – es beobachtet, formuliert Hypothesen, testet diese und passt sich entsprechend an. Fehlschläge werden in diesem Modell nicht als endgültige Hindernisse betrachtet, sondern als wertvolle Datenpunkte im kontinuierlichen Lernprozess.[7]

Die experimentelle Forschung selbst zeigt, dass dieser Ansatz methodisch dem traditionellen linearen Modell überlegen sein kann. Bei experimenteller Forschung werden Variablen systematisch manipuliert, um Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu untersuchen. Es geht nicht um das Erreichen eines vordefinierten Ergebnisses, sondern um das systematische Testen von Hypothesen und das Gewinnen neuer Erkenntnisse.

Drei praktische Wege, experimenteller zu denken

Anne-Laure stellt in ihrem Buch "Tiny Experiments" und ihren Vorträgen drei praktische Ansätze vor, um eine experimentelle Denkweise im Alltag zu kultivieren:[3]

1. Entwicklung einer experimentellen Grundhaltung

Ein Wissenschaftler interpretiert ein unerwartetes Ergebnis nicht als persönliches Scheitern, sondern als interessante Beobachtung mit Lernpotenzial.[5] Diese Perspektive kann jeder übernehmen, indem das Leben als Labor betrachtet wird und Neugier über Sicherheit gestellt wird. Anne-Laure bezeichnet dies als "experimentelles Mindset" – eine Grundhaltung, die Unsicherheit nicht als Bedrohung, sondern als Raum für Erforschung und Wachstum betrachtet.

Der Übergang vom linearen zum experimentellen Denken erfordert ein Umdenken bezüglich Erfolg und Misserfolg. Im experimentellen Modell gibt es keinen Misserfolg im traditionellen Sinne – solange etwas gelernt wurde, war das Experiment erfolgreich.[7] Diese Neuinterpretation von Erfolg befreit von der Angst vor Fehlern und schafft Raum für Kreativität und echte Innovation.

2. Systematische Neugier kultivieren

Anne-Laure betont die Bedeutung "systematischer Neugier" – einer bewussten, strukturierten Form des Fragens und Erforschens.[5] Diese geht über spontane Interessensbekundungen hinaus und umfasst auch die Untersuchung schwieriger oder unbequemer Themen.

Am Beispiel der Prokrastination demonstriert Anne-Laure diesen Ansatz: Statt sich für aufgeschobene Aufgaben zu verurteilen, könnte man systematisch verschiedene Hypothesen untersuchen[1]:

  • Ist das Problem kognitiver Natur? (Erscheint die Aufgabe sinnvoll?)
  • Ist es emotional bedingt? (Bereitet die Aufgabe Unbehagen oder Langeweile?)
  • Ist es praktisch begründet? (Fehlen notwendige Ressourcen oder Unterstützung?)

Je nach Antwort können unterschiedliche Strategien entwickelt werden – von der Umgestaltung der Aufgabe über das Hinzuziehen von Unterstützung bis zur Veränderung des Arbeitsumfelds. Diese methodische Herangehensweise an persönliche Herausforderungen entspricht der wissenschaftlichen Methode in der experimentellen Forschung.

3. Iteration als Grundprinzip verankern

Jede neue Herausforderung kann als Experiment konzipiert werden. Dabei empfiehlt Anne-Laure, kleine, überschaubare Experimente zu definieren, die sie als "Tiny Experiments" bezeichnet.[3] Ein gut gestaltetes Experiment besteht aus zwei Kernkomponenten:

  • Aktion: Die konkrete Handlung, die ausprobiert wird
  • Dauer: Ein festgelegter Zeitraum für das Experiment

Anne-Laure beschreibt den Prozess in drei Schritten: Zunächst beobachten wir ohne Wertung, dann formulieren wir eine Hypothese basierend auf unserer Intuition, und schliesslich designen wir ein "Tiny Experiment".[3] Dabei folgen wir einem einfachen Template:

  • "Ich werde [Aktion] für [Zeitraum] durchführen"

Ein praktisches Beispiel aus Anne-Laures Vortrag: Jemand mit Redeangst könnte sich vornehmen, zehn Tage lang täglich ein kurzes Video von sich aufzunehmen und zu veröffentlichen. Nach Abschluss dieses definierten Experiments kann reflektiert werden: War es hilfreich? Welche Veränderungen wurden beobachtet? Welcher Schritt könnte als nächstes folgen?

Die Vorteile eines experimentellen Mindsets

Der bedeutendste Vorteil einer experimentellen Denkweise liegt in der Reduktion der Angst vor Fehlern. Experimente sind definitionsgemäss ergebnisoffen konzipiert – man kann nicht "scheitern", sondern nur neue Erkenntnisse gewinnen. Diese Haltung fördert Kreativität, Resilienz und Selbstvertrauen in unsicheren Situationen.

Besonders wertvoll ist dieser Ansatz in einer Zeit schneller Veränderungen und zunehmender Komplexität. Die experimentelle Denkweise ermöglicht adaptives Lernen und kontinuierliche Anpassung – Fähigkeiten, die in der modernen Arbeits- und Lebenswelt unerlässlich sind.[1]

Neurowissenschaftliche Forschungen, darunter auch Anne-Laures eigene Arbeit am King's College London, unterstützen diesen Ansatz. Ihre Studien zur Neurodiversität und kognitivem Lernen zeigen, dass experimentelle Lernmodelle besonders effektiv sein können, da sie unterschiedlichen kognitiven Stilen und Lernpräferenzen gerecht werden.

Fazit: Entwickle eine Kultur der kleinen Experimente

Anne-Laure lädt uns ein, eine Gesellschaft zu imaginieren, in der nicht ausschliesslich nach Ergebnissen und Erfolgen gefragt wird, sondern auch nach Experimenten und Lernprozessen.[5] Eine Kultur, in der Fehler als wertvolle Lernchancen betrachtet werden und in der Neugier höher geschätzt wird als vermeintliche Gewissheit.

Ihr Konzept der "Tiny Experiments" bietet einen praktischen Rahmen, um von starren Zielvorstellungen zu einer flexibleren, wachstumsorientierten Lebensweise überzugehen. Diese Perspektive ermöglicht es, Unsicherheit nicht als Bedrohung, sondern als Raum für Erkundung und persönliche Entwicklung zu betrachten.

Der experimentelle Ansatz erfordert zwar anfänglich ein Umdenken, belohnt aber mit erhöhter Anpassungsfähigkeit, vertieftem Lernen und grösserer Resilienz gegenüber Rückschlägen.[3]canva In einer zunehmend komplexen und sich schnell verändernden Welt könnte diese Denkweise nicht nur individuelles Wohlbefinden fördern, sondern auch zu innovativeren Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen beitragen.

Was wird dein nächstes Experiment sein?

Quellen

[1] Keynote: Rewiring How We Learn: The Power of an Experimental Mindset | SXSW EDU 2025: https://youtu.be/BCIT1L5muoQ?si=M_FtumBSQ4zWjIwB

[2] Anne-Laure Le Cunff Talks About Tiny Experiments and Sustainable ... https://www.youtube.com/watch?v=Sf9nLZ9aqks

[3] Anne-Laure Le Cunff: Tiny Experiments | Umbrex Presents https://umbrex.com/umbrex-presents/anne-laure-le-cunff-tiny-experiments/

[4] The Evolution of My Second Brain | Anne-Laure Le Cunff - Forte Labs https://fortelabs.com/blog/the-evolution-of-my-second-brain-anne-laure-le-cunff/

[5] The Anne-Laure Le Cunff interview: How to become "the scientist of ... https://bigthink.com/the-long-game/the-anne-laure-le-cunff-interview-how-to-become-the-scientist-of-your-own-life/

[6] TCC Podcast #331: Neuroscience, Productivity, and Building ... https://thecopywriterclub.com/neuroscience-anne-laure-le-cunff/

[7] Tiny Experiments: A System to Change Your Life - YouTube https://www.youtube.com/watch?v=jntsKUT1Hkk

[8] Tiny Experiments: How to Live Freely in a Goal-Obsessed World https://www.youtube.com/watch?v=nb-_Rxccb8g

[9] Who is Anne-Laure Le Cunff?! - YouTube https://www.youtube.com/watch?v=jGLEA4MMCCs

[10] Lifelong Learning & Curiosity: Embracing Tiny Experiments For Big ... https://www.ipurposepartners.com/blog/lifelong-learning-and-curiosity-embracing-tiny-experiments-for-big-change-with-anne-laure-le-cunff

[11] Anne-Laure Le Cunff - YouTube https://www.youtube.com/@neuranne

[12] Tiny Experiments by Anne-Laure Le Cunff - Ness Labs https://nesslabs.com/book

[13] The Power of Personal Experiments - Ness Labs https://nesslabs.com/personal-experiments

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